Balanceakt Einkaufskriterien
11. Januar 2023

Kommende Woche reisen wieder zahlreiche Mode-Menschen nach Berlin. Es ist Fashion Week und alles dreht sich um Kreatives, Schönes, Neues und Innovatives. Auch wir sind dabei und besuchen auf verschiedenen Messen unsere bestehenden und mögliche neue Partner:innen. Im Mittelpunkt stehen die Designs für den Herbst/Winter 2023. In den Wochen danach wählen wir aus, was in sechs bis neun Monaten in unseren Läden hängen darf. Wir bei glore kaufen allerdings nicht einfach nur die schönsten verfügbaren Stücke ein, sondern wir wollen, dass sie auch möglichst hohen Anforderungen an ökologische und soziale Nachhaltigkeit entsprechen. Das ist soweit keine Neuigkeit. Aber was heisst das konkret? Welche Faktoren machen Kleidung nachhaltig? Und wenn man davon ausgeht, dass ein Kleidungsstück nicht einfach vollständig korrekt oder absolut katastrophal produziert ist, sondern dass es viele Zwischenstufen gibt, wann ist dann ein Artikel nachhaltig genug für uns? Mit diesen Fragen befassen wir uns fortlaufend und sie zu beantworten, ist oft alles andere als einfach. 

Da gibt es einerseits den kaum zu überschätzenden Aspekt der Langlebigkeit. Kleider müssen lange halten – und natürlich auch entsprechend lange getragen werden – damit sie nachhaltig sein können. Das steht quasi als «Mantra» über allem. Dazu gehört auch, dass man sie sorgfältig pflegt, Reparables repariert oder reparieren lässt (darum bieten wir auch einen Reparaturservice an) und dass man sie als Second Hand weiterverkauft, tauscht oder verschenkt, wenn man sie nicht mehr tragen mag. Diese Überzeugung kann auch unterstützt werden, indem man selbst Second Hand Kleider kauft und somit Kleider nutzt, die schon im Kreislauf sind. Ganz in diesem Sinne haben wir vor einigen Jahren «Second Love» ins Leben gerufen. Wer zur Langlebigkeit ein Häkchen machen kann, widmet sich als nächstes den Produktionsbedingungen.

Bisher haben wir uns beim Einkauf unseres Sortiments an zwei Kriterienkatalogen (Ökologie und Sozialstandards) orientiert, die die Inhaber:innen der glore-Läden in Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammen definiert haben.  

Beim ökologischen Kriterienkatalog dreht sich alles um die Rohstoffe, aus denen unsere Kleider hergestellt werden. Da ist zu jedem Material festgehalten, was für den Einzug in unsere Läden erfüllt sein muss und welche Zertifikate gefordert sind. Baumwolle muss zum Beispiel immer bio-zertifiziert sein, akzeptiert werden folgende Zertifizierungen: IVN, GOTS, kbA, Fairtrade Bio-Standard, OCS mit mind. 90% Bio-Anteil und bioRe. Zusätzlich darf zurzeit weder der Anbau der Baumwolle noch die Weiterverarbeitung in der Region Xingjiang stattgefunden haben. Damit wollen wir verhindern, dass einzelne Arbeitsschritte unserer Kleider unter Zwangsarbeit von Uigur:innen verrichtet wurden. Viskose verkaufen wir nur, wenn sie das EcoveroTM Label vom österreichischen Faserhersteller Lenzing trägt. Cupro verkaufen wir nur, wenn die Faser vom japanischen Hersteller Asahi Kasei produziert wurde und das BembergTM Label trägt. 

Beim Thema Leinen wird es dann schon ein bisschen komplizierter, weil unsere präferierte Form dieses Materials, (Flachs, der in Europa biologisch angebaut wird) auf dem Markt so gut wie gar nicht verfügbar ist. Wir müssen uns also in den allermeisten Fällen zwischen bio-zertifizierten Leinenstoffen aus China oder Leinenstoffen aus herkömmlich angebautem Flachs aus Europa (oft immerhin Masters Of Linen zertifiziert) entscheiden. Diese Entscheidung fällt oftmals schwer, da Leinen auch im konventionellen Anbau bedeutend weniger Pestizide und Wasser benötigt als zum Beispiel Baumwolle. Es könnte also durchaus sein, dass es für die Ökobilanz unter dem Strich mehr Sinn macht, auf die Bio-Zertifizierung bei Leinen zu verzichten und damit mehr europäische Alternativen zur nicht unproblematischen Bio-Baumwolle anzubieten. Und gleichzeitig auch noch auf den weiten Transportweg von China zu verzichten. Aber ganz sicher sind wir aktuell nicht, weil uns dazu die entsprechenden verlässlichen Vergleichswerte fehlen. Zu definieren, welche Faktoren wir also auf welcher Produktionsebene wie bewerten wollen, ist für uns in vielen Fällen eine anspruchsvolle Aufgabe. Und auch ein Grund, warum wir viel Zeit in unsere Recherche investieren. 

Zusätzlich stellt sich die Frage, ob es reicht, sich ausschliesslich auf die Materialität zu fokussieren. Grundsätzlich steckt da schon viel drin. Je nachdem, wie eine Faser hergestellt und weiterverarbeitet wird, werden Wasser, Energie, Pestizide und Chemikalien eingespart beziehungsweise professioneller gemanagt und effizienter eingesetzt. Tiere werden unter besseren Bedingungen gehalten, Flüsse und Felder nicht verschmutzt und CO2-Emissionen eingespart. Man kann durch die Materialwahl also schon so einiges abdecken. Erfreulicherweise sind immer mehr Produkte komplett GOTS-zertifiziert. Damit umfassen die relativ hohen ökologischen Anforderungen nicht nur die Rohstoff-Gewinnung, sondern auch die weiteren Verarbeitungsschritte bis zum fertigen Stück. Trotzdem gibt es bei uns zum Beispiel bei der Erfassung und dem kontinuierlichen Senken der CO2-Emissionen und der Optimierung des Chemikalienmanagements in der Wertschöpfungskette noch grosse strategische Lücken, die wir in naher Zukunft schliessen wollen. Wie hoch bzw. tief setzen wir die Grenzwerte beim Einsatz problematischer Chemikalien und wie wird die Einhaltung derer überprüft? Wie schaffen wir es, die Nutzung erneuerbarer Energien zu fördern? Diesen und ähnlichen Fragen widmen wir uns zurzeit intensiv. 

Bei unseren Einkaufskriterien zu den Sozialstandards sieht es bis jetzt folgendermassen aus: Eine Marke muss entweder Mitglied bei der Fair Wear Foundation sein, in einem von 18 aufgelisteten europäischen Ländern* konfektionieren lassen, mit SA 8000 zertifizierten Fabriken arbeiten, Fairtrade Textile zertifiziert oder Mitglied der World Fair Trade Organization sein – oder unseren Fragebogen zu den Sozialstandards in ihrer Lieferkette beantworten. Da klären wir im Detail, in welchen Ländern die Marke produziert, wie die Produzent:innen heissen, wie oft die Marke vor Ort ist, wie die Mindestlöhne bei den einzelnen Produzent:innen ausfallen, wie viele Stunden pro Woche gearbeitet wird und so weiter. Was uns dabei aufgefallen ist: Noch ist zu ungenau definiert, welche Antworten wir bezüglich Präzision, Umfang und Inhalt als befriedigend einordnen. 

Zum Beispiel: Wir fragen, ob existenzsichernde Löhne in der gesamten Lieferkette bezahlt werden. Genügt es uns, wenn die Marke uns versichert, dass die Konfektionsbetriebe immer mal wieder besucht werden und es sich dabei um sympathische Familienbetriebe handelt, die anständige Löhne zahlen? Nein, das tut es nicht. Viel eher wollen wir von jedem Produktionsbetrieb konkrete Zahlen aufgelistet bekommen, damit wir uns selbst ein Bild davon machen können, wie «anständig» die Löhne sind. Aber wie gehen wir damit um, wenn uns viele unserer Marken diese Infos nicht umfänglich liefern können? Weil die Produzent:innen gar nicht über ihre Löhne reden wollen und unsere Marken oft zu wenig Verhandlungsmacht haben, um alle Infos einfordern zu können. Oder weil die Marken die eigenen Lieferketten gar nicht bis zu den Rohstoffen zurückverfolgen können – was fast immer der Fall ist, da es sich um eine äusserst komplexe Kette mit vielen Zwischenhändler:innen handelt. 

Wieviel Zeit geben wir dann den Marken, damit sie die nötigen Informationen sammeln und wo nötig Produzent:innen wechseln können? Und was machen wir, wenn für uns wirtschaftlich wichtige Marken nicht bereit sind, diesen Aufwand zu betreiben? Uns selbst sind die Hände dabei weitestgehend gebunden, weil wir nicht selbst mit den Akteur:innen in der Lieferkette arbeiten. Der einzige Hebel in unserer Hand ist schlussendlich die Entscheidung, welche Marken wir verkaufen und welche nicht. 

Es ist eine komplexe Frage, wieviel wir realistischerweise maximal einfordern können, ohne irgendwann mit leeren Läden dazustehen, weil niemand unsere Anforderungen erfüllt. 

Und da uns die persönliche Erfahrung in den Lieferketten fehlt, sind wir auf einen offenen Austausch mit unseren Marken angewiesen, um überhaupt zu verstehen, wo welche Schwierigkeiten auftreten und wie wir am konstruktivsten damit umgehen. 

Was uns zurzeit beim Weiterentwickeln unserer Nachhaltigkeitsstrategie hilft und vorwärtstreibt ist, dass wir seit ein paar Monaten verpflichtete Akteurin bei der Sustainable Textiles Switzerland 2030 (kurz STS 2030) Initiative sind. Ziel dieses Multi-Stakeholder-Programms ist es, den Schweizer Textil- und Bekleidungssektor dabei zu unterstützen, die Nachhaltigkeitsentwicklungsziele (SDGs) der UNO zu erreichen. Die drei Trägerverbände dieser Initiative sind Swiss Textiles, amfori und Swiss Fair Trade. Das Programm wird vom SECO finanziell und zusammen mit dem BAFU auch strategisch unterstützt. 

Die Teilnahme an dieser Initiative spornt uns zusätzlich an, als Unternehmen unsere eigenen ökologischen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeitsziele noch strukturierter, umfassender und strategisch durchdachter zu verfolgen. Sie fördert unseren Austausch mit anderen Detailhändler:innen, die bei den gleichen Aufgaben anstehen. Und die Initiative bietet auch gezielt Unterstützung an. 

Entsprechend werden wir in den nächsten Monaten unsere Nachhaltigkeitsperformance umfassend testen und die nächsten Jahre damit verbringen, neu gesteckte Ziele zu erreichen. Es wird dabei um Themen wie die Reduktion der Treibhausgasemissionen und die Verbesserung von Sozialstandards in den Lieferketten unserer Marken, um grössere Transparenz, neue Geschäftsmodelle und umgesetzte Kreislaufwirtschaft gehen.  

All dies hat natürlich wiederum direkten Einfluss darauf, wie wir unser Sortiment gestalten und welche Kleider bei uns in den Läden hängen.

Es ist für uns sehr spannend und motivierend, das viele Wissen, das wir uns in der Zwischenzeit angeeignet haben, zu einer vollumfänglichen Nachhaltigkeitsstrategie auszubauen. Und wir freuen uns schon darauf, regelmässig über unsere neusten Erkenntnisse und Fortschritte zu berichten und dadurch Kontext zum Einkaufserlebnis in unseren Läden zu liefern.

*) namentlich: Schweiz, Deutschland, Österreich, Holland, Belgien, Luxemburg, Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen, England, Irland, Island, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Griechenland